Kriegsneurotiker und Militärpsychiatrie

Titelblatt: Otto Hinrichsen, Die Kriegspsychose
Otto Hinrichsen, Die Kriegspsychose bei den kämpfenden Völkern, Titelblatt, 1917
Deutsche Nationalbibliothek, Sammlung Erster Weltkrieg, Signatur: 1917 B 9023

Kriegs­neu­ro­ti­ker und Militär­psychiatrie

Es entspricht nicht der Schwere des geschichtlichen Augenblicks, die Wahl der Methodik von ästhetischer Weichfühligkeit oder pseudomoralischer Bedenklichkeit abhängig zu machen.

Ferdinand Kehrer, Zur Frage der Behandlung der Kriegsneurosen, 1917

Die ungeheure Zerstörungskraft des mechanisierten Krieges hinterließ tiefe Spuren im Seelenleben vieler Soldaten. Diese Traumatisierungen, hervorgerufen etwa durch Verschüttungen, Artilleriebeschuss oder die Zeugenschaft entsetzlichster Verstümmelungen von Kameraden, drückte sich in vielfältiger Form durch körperliche Symptome aus, ohne dass die betroffenen Körperteile geschädigt worden waren. Oft verloren die Traumatisierten vorübergehend einen Teil ihrer Sinne, so dass sie nicht mehr fähig waren, zu sehen, zu sprechen oder zu hören.

Oftmals begann für die Patienten mit der Diagnose der Kriegsneurose ein weiterer Weg des Leidens, denn die kurzfristig entwickelten Therapien der Neurologen und Psychiater basierten auf militärischer Unterordnung unter den Sanitätsoffizier sowie auf die Anwendung von Gewalt gegen den Patienten.

Neben einigen zunächst harmlos anmutenden Maßnahmen, wie Isolation, Dauerbäder und kühle Packungen, war ab 1915 die sogenannte Kaufmann-Kur besonders drastisch. Hierbei wurden die Patienten mit zum Teil starken Stromschlägen traktiert. Die Elektroden brachte der Arzt am Kehlkopf, den Augen, den Ohren oder an den von den Symptomen betroffenen Organen direkt an. An die Stromfolter, die zwei bis fünf Minuten dauerte, schloss sich die eigentliche Suggestivbehandlung an, das heißt der Psychiater befahl dem Patienten z.B. Marschübungen zu absolvieren, wenn dieser an einem Zittern der Beine litt.

Patienten, die unter einer Lähmung der Kehlkopfmuskulatur litten und nicht sprechen konnten, wurde in machen Fällen eine Metallkugel in den Rachen eingeführt, welche die Luftröhre verschloss und die Luftzufuhr unterbrach. In der darauf einsetzenden Panik sollte der Kranke einen Angstschrei von sich geben und die Lähmung somit aufgehoben werden.

Durch Angst, Schreck und körperlichen Schmerz sollten die Symptome überwunden und dem Patienten der Vorteil seiner Krankheit, der Schutz vor dem Kampfgeschehen an der Front, genommen werden. Mit anderen Worten: Der Soldat sollte die Schrecken der Front als weniger furchterregend empfinden als die Behandlungsmethoden der Psychiater und die Genesung dadurch beschleunigt werden.

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