Das soldatische Kriegserlebnis
Wir haben schwere Wochen hier in Flandern. Ich schreibe bei Kerzenlicht in einem Stollen, aus dem wir seit der letzten Ablösung vor 14 Tagen nicht mehr herausgekommen sind. […] Wir haben wenig zu essen und immer größere Verluste. […] Wir tun immer noch unsere Pflicht, aber wir wissen nicht mehr, wofür und warum. […] Es muß doch später einmal anders werden, denn was haben wir einfachen Soldaten schon vom Krieg. […] Aber für unser Vaterland setzen wir uns trotzdem ein, denn wir möchten nicht, daß die ungeheure Zerstörung, die hier an den Fronten herrscht, auch in unsere Heimat kommt.
Karl Pöppel-Steffens, Unverzagt. Leben und Erkenntnisse eines Deutschen im XX. Jahrhundert, 1917, veröffentlicht 1981
Nach der Marneschlacht begann an der Westfront der Stellungskrieg. Um sich darin vor dem gegnerischen Feuer zu schützen, gruben die Soldaten Gänge und Höhlen in die Erde. Diese Schützengräben bildeten die Kulisse für den oft durch Langeweile und Stumpfsinn geprägten Dienst an der Front. Dort wachten, kochten und schliefen die Soldaten. In ihren Erdlöchern, die als Behausung in die lehmigen Wände der Gräben getrieben wurden, verfassten sie ihre Briefe an die Familie. Von hier aus hörten sie den Gegner in der Nacht, wie er seine Gräben ausbesserte, Stacheldrahthindernisse aufstellte oder zu Patrouillengängen aufbrach.
Einem Angriff auf den gegnerischen Graben ging vielfach die Vorbereitung durch die Artillerie voraus. Geschütze leichten und schweren Kalibers belegten den Gegner mit schwerem Feuer. Grabensysteme, Maschinengewehrstellungen, Befestigungen und Kommunikationsanlagen sollten durch den Granatenhagel zerstört, die abwehrbereiten Feinde zermürbt werden. Die lebenden Ziele dieser zum Teil zwei Zentner schweren Geschosse lagen in ausgehobenen Erdlöchern, Schützengräben oder Granattrichtern und konnten nichts weiter tun, als zu hoffen, dass sie nicht getroffen wurden. Für sie musste sich der Eindruck einstellen, dass sie nicht von Gegnern, sondern von Sachen, von Granatsplittern, Explosionsgasen und Giftgas bedroht und getötet wurden. Das alles beherrschende Gefühl dieser Soldaten war das des schutzlosen Ausgeliefertseins, der vollständigen Ohnmacht einer Waffe gegenüber, die vom Menschen bedient, aber nicht beherrscht werden konnte.
Nach dem Artilleriebeschuss begann der Angriff der Infanterie. Aus dem relativen Schutz des Grabens herausgeklettert, befand sie sich das zwischen den vordersten Gräben liegende im Niemandsland, das es zu überqueren galt, um die verbliebenen Gegner im Nahkampf durch Bajonett, Gewehr oder Dolch zu töten. Während dieses Sturmangriffs war das Maschinengewehr die effektivste Waffe zur Abwehr. Während ein Soldat ungefähr 15 Schuss pro Minute mit seinem Gewehr abfeuern konnte, versprühte das Maschinengewehr bis zu 600 Kugeln in dieser Zeitspanne. Damit ließen sich weite Teile des Niemandslands unter Feuer nehmen und den Angreifern verheerende Verluste zufügen.
Mit diesen Erfahrungen wuchs bei vielen Soldaten das Bedürfnis, dem Geschehen einen Sinn zuzuweisen. Waren zu Beginn des Krieges noch idealistische Deutungen des Kriegsgeschehens zu beobachten, wonach beispielsweise der Krieg für die Zukunft der deutschen Kultur oder eine neue Gemeinschaft ausgefochten wurde, so sahen sich viele Soldaten im weiteren Verlauf des Kampfes zusehends als Opfer einer Katastrophe, der sie schutzlos ausgeliefert waren. Die sozialistischen Soldaten betrachteten sich als Opfer der Kapitalisten und Militärs, für deren Nutzen sie in den Tod geschickt würden – auch wenn in der sozialistischen Deutung der Krieg anfangs als notwendiges Übel betrachtet worden war, das die lang ersehnte Revolution bringen werde. In der religiösen Deutung sahen sich die Soldaten als Opfer Gottes, der es tatenlos geschehen ließ, dass die Menschen sterben. Dieses Opferdenken verdrängte die anfängliche Vorstellung, wonach der Krieg eine Läuterung der materialistischen Gesellschaft bewirken werde. Bei den Bauern waren es diffuse und vielfältige Formen der Viktimisierung, die zudem durch eine stark resignative Haltung geprägt waren.
In der nationalen Deutung war zu Beginn des Krieges somit die Vorstellung vorherrschend, dass der Soldat sich für das Vaterland opfere, also eine aktive, selbstgewählte Rolle ausübte. Diese Perspektive schlug während des Kampfes jedoch um und wurde abgelöst durch die Vorstellung, dass man im Namen anderer Interessen geopfert werde.